Ja, ich bin polyamourös!

Ein polyamouröses Leben kann auch langfristig gelingen. Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft, auch mal mehr zu geben als zu nehmen.
Herz aus bunten Neonröhren an einer dunklen Wand

Folgend werden die persönlichen Erfahrungen und Meinungen eines unserer Mitglieder von Viamor.de wiedergegeben...

Dieser Satz – nennen wir ihn ruhig mein Outing – sorgte kürzlich beim Familienessen für staunende Blicke und kopfschüttelnde Ratlosigkeit in der Runde. Mein schwerhöriger Onkel, ein pensionierter Latein- und Griechisch-Professor, fragte dreimal nach, bevor er seine wasserblauen Augen, schwer kurzsichtig, aber lustig blitzend, auf mich richtete. „Polyamourös? So,so. Ich freue mich, dass so viel Liebe in deinem Herzen steckt. Je mehr Liebe du aussendest, desto mehr kommt zurück.“ Nun strahlte er mich richtig begeistert an und ergänzte: „Weißt du, ich habe schon immer gesagt,…“. Ein stählerner Blick seiner dritten Ehefrau erdolchte den zweiten Teil seines Satzes. Meine Mutter versteckte ihr Grinsen hinter ihrer Serviette, Vater und Taufpate achteten tunlichst darauf, keine bedeutungsvollen Blick zu wechseln. „Und morgen adoptiere ich polyamourös einen oder zwei Hunde aus dem Tierheim“. Mein radikaler Themenwechsel stieß auf allgemeine Erleichterung.

Polyamourös zu sein ist nichts Neues, auch wenn der Ausdruck erst vor kurzem in die allgemeine Wahrnehmung vorgedrungen ist. Ich meine ja, dass unsere Gefühlswelt ohnehin polyamourös angelegt sein muss, denn wie sonst könnten Eltern mehrere Kinder gleichzeitig lieben? Die Kinder wiederum lieben ebenfalls viele Personen – man nennt das Familie. Warum also sollte man ausgerechnet in Beziehungsdingen monogam statt polyamourös leben? Auch wenn sich vielerlei Erklärungen aufdrängen, von soziologischen über religiöse bis hin zu juristischen Begründungen, sehe ich es nicht als Sinn dieses Blogs, ein psychologisches Gutachten unserer Gesellschaft zu erstellen. Lassen wir es einfach so stehen: Monogamie ist einfacher in vielerlei Hinsicht. Bloß wenn es um Emotionen geht, die Hormon-Räusche auslösen und uns zwischen Sehnsucht und Befriedigung umher scheuchen, ist gar nichts mehr einfach.



Ich habe mich schweren Herzens von meinem geliebten Partner getrennt, denn seine Eifersuchtsattacken haben unsere einstige Harmonie gekillt. Er hatte natürlich sofort bemerkt, wenn mein polyamouröses Wesen meine Gedanken und Gefühle in andere Richtungen trieb. Sein „Herrschaftsanspruch“ akzeptierte allerdings nur einen König meines Herzens, nämlich ihn. Doch den Thronsaal meiner Liebe hatte zu diesem Zeitpunkt ein hochtalentierter Barde, Poet und Musiker im Sturm erobert. Die Folge waren ergreifend romantische Gedichte, Liebeslieder und ständiger Austausch per E-Mail. Mein Kopf steckte voller Ohrwürmer, übrigens eine der perfidesten Formen mentaler und emotionaler Abhängigkeit. Ich versuchte meinem Partner klarzumachen, dass Treue für mich hundertprozentige Loyalität und Verlässlichkeit bedeutet, aber sicher nicht eine Kastration meiner Gefühlswelt. Das sieht der Barde übrigens ebenso. Der ist nämlich noch um Lichtjahre polyamouröser als ich.

Polyamourös zu leben, ist nicht unbedingt einfach. Wir Menschen sind nämlich, ob wir das wollen oder nicht, von Erwartungshaltungen geprägt. Dieser Begriff ist zwar in Verruf gekommen, seit sich unsere moderne Gesellschaft der hohen Kunst bedingungsloser Liebe zugewandt hat. Die Umsetzung im Alltag hinkt allerdings deutlich hinterher. Die Vorstellung, eine Person exklusiv „zu besitzen“ sitzt tief. Wir werden wohl noch ein Weilchen Zeit und Geduld benötigen, bis den meisten Zeitgenossen klar geworden ist, dass man andere nicht besitzen kann. Jeder Mensch ist frei geboren und hat das Recht, sich seinen eigenen Vorstellungen gemäß zu entfalten, auch polyamourös. Tja, und wenn jemand unerhört viele Facetten und Talente besitzt, so wie etwa unser Barde, dann ist es ja auch nachvollziehbar, dass nicht eine Frau allein sein in alle Richtungen schillerndes Spektrum abdecken kann. Jedenfalls für ihn ist es nachvollziehbar, für viele seiner Geliebten allerdings eher nicht.

Es gibt bei Polyamourösen nämlich einen Kernpunkt und der ist wesentlich: Ehrlichkeit. Wer seinem jeweils wechselnden Gegenüber vorgaukelt monogam zu sein, ist schlicht und einfach verlogen. Außerdem spüren die meisten Menschen, wenn ihnen etwas vorgemacht wird. Unser Unterbewusstsein kann nämlich exzellent zwischen Authentizität und Show unterscheiden – vorausgesetzt, wir vertrauen dieser inneren Stimme und lassen nicht wohlwollendes Wunschdenken Überhand nehmen. Die Königsdisziplin im Polyamourösen ist also von Ehrlichkeit und Offenheit geprägt. Unser Barde macht das bravourös vor. Nicht nur erzählt er all seinen Herzdamen bereits nach kürzester Zeit von seinen anderen Liebsten. Natürlich bereitet er den Boden vorsichtig auf, legt zwar die Karten auf den Tisch, lässt aber immer genügend Interpretationsspielraum zu. Verliebte Frauen zimmern sich ihre Realität ohnehin selbst. Sie sind durchaus in der Lage, eine offensichtlich in denselben Mann verliebte Frau zur Freundin zu erheben. Frei nach dem Motto: Geteilte Liebe ist vielfaches Glück.



Glaubt es oder nicht, ich habe tatsächlich viele neue Freundinnen gewonnen, die mir persönlich von unserem Barden ans Herz gelegt wurden. Sie alle sind ausnahmslos sehr attraktive, kluge und achtsame Damen. Manche sind blutjung, andere bereits im Spätherbst des Lebens angekommen. Manche entflammen lichterloh in Strohfeuern und sind bald wieder weg. Andere schaffen diesen polyamourösen Toleranzakt Jahrzehnte lang. Natürlich durchleben sie Höhen und Tiefen, denn wenn ein Herz sich an ein anderes bindet, wird der Hormoncocktail in unserem System kräftig durchgemixt. Nicht nur Endorphine und Dopamine werden großzügig ausgeschüttet. Auch das „Kuschelhormon“ Oxytocin, das uns Frauen dazu treibt, bewusst oder unbewusst an Familiengründung zu denken und märchenhafte Ideen wie: „Sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage“, für real zu halten, flutet unser System – ob wir wollen oder nicht. Tatsächlich ist es genau dieser Hormoncocktail, vor dem wir Polyamourösen auf der Hut sein sollten. Ein Blick in die Tierwelt kann auch nachdenklich stimmen: Die Alpha-Weibchen unter den Schimpansen beißen Konkurrentinnen auch ab und zu tot. 

Darüber klagt auch unser Barde ganz offen. Er versteht nicht, warum Eifersucht seine Favoritinnen umtreibt. Er sieht zwar ein, dass eine Geliebte, der er seinen nächtlichen Besuch ankündigt, durchaus sauer reagieren kann, wenn er dann doch nicht kommt, weil er überraschend ins Bett einer anderen springen musste. Ich habe mehrfach versucht, ihm zu erklären, dass Erwartungshaltungen in so einem Fall unausweichlich sind. Denn sie wartet auf ihn, obwohl sie theoretisch auch in anderen Armen Freude und Genuss empfinden könnte. Dann schaut er ganz zerknirscht, der polyamouröse Barde, gibt sein Fehlverhalten zu und entschuldigt sich inbrünstig bei der vergeblich Wartenden. Seine Ehrlichkeit und vor allem sein Wunsch, die Enttäuschung um ein Vielfaches wettzumachen, beflügelt die Beziehung erneut. So gelingt es dem Vielgeliebten, die Toleranzgrenzen seiner Favoritinnen sukzessive auszuweiten. Sie alle wissen, dass er eines Tages zurückkehren wird. Wann, das weiß nur er. Klingt in euren Ohren egoistisch? Ist es auch. Wer polyamourös leben möchte und will, dass dieses Konzept funktioniert, muss oft mehr geben als nehmen. Da hat unser Barde definitiv noch Nachholbedarf.

Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass ein polyamouröses Leben durchaus glücklich macht. Mag schon sein, dass es sich an der Oberfläche ausbreitet, es kann aber durchaus auch Tiefgang entwickeln. Schließlich lieben wir Menschen in all ihren Facetten und je ehrlicher der Umgang mit ihnen ist, desto länger und glücklicher wird dieses polyamouröse Leben währen. 
Autor*in: Anonymes Mitglied von Viamor

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